Bericht zum “GIANTS TOUR BREVET”
vom 19. – 21. Juli 2014
„Irgendwie bin ich völlig durch den Wind“ sagte ich zu Thomas beim Frühstück um 5:00 Uhr morgens im Hotel Agorà in Biella. Thomas hatte sich bereits die vierte Ladung vom reichhaltigen Buffet geholt und ich hatte noch mit meiner ersten Portion zu kämpfen. Mein „Lampenfieber“ vor der bevorstehen Herausforderung, einer doppelten Alpenüberquerung über 945 Kilometer, die wir Non-Stopp zurücklegen wollten, war unbeschreiblich. Der Event nannte sich GIANTS TOUR BREVET und wurde von Vallelvobike A.s.d. veranstaltet.
In der zurückliegenden Nacht hatte ich schon fast kein Auge zugetan und lag gefühlt die ganze Nacht in meinem Bett wach. Diese nervösen Charakterzüge hatte ich schon immer vor solch großen Herausforderungen. Da ich in den letzten Jahren aber selbst vor den „normalen“ 600er Brevets keine Aufregung mehr verspürte und gut schlafen konnte, war ich trotz allem irgendwie beruhigt: Es war endlich wieder „Safari-Zeit“! Das heißt es galt für mich Neuland zu erobern und die persönlichen Grenzen neu zu definieren. Wieder mal war ich hungrig auf Erlebnisse und Eindrücke, die sich wie eine Granitfräse in meine Gehirnrinde eingraben und dort für immer bleiben werden!
Thomas und ich waren die einzigen Deutschen, die nach Biella angereist waren. Am Tag zuvor fand die Anmeldung und das Briefing statt. Die Randonneurs-Szene in Italien ist ganz anders als die in Deutschland. Es ist nicht so locker bzw. heiter, sondern alles ist sehr ernsthaft und sportlich ausgerichtet. Aber die Organisation war absolut top und alle waren sehr freundlich und hilfsbereit! Es gab zwei Verpflegungsstationen mit „Bagdrop-Service“. D.h. man konnte zwei Taschen mit Klamotten, Ersatzteilen und Nahrung packen, die zu den Stationen bei KM 340 und KM 655 transportiert wurden.
Um 6:00 Uhr ging es dann, von Motorrädern eskortiert, aus Biella hinaus. Die ersten 95 Kilometer gingen wie erwartet in einer großen Gruppe relativ zügig vorbei. Wobei das Tempo im Flachland (für gewohnte Verhältnisse) mit einem 29er Schnitt eher moderat war. An der ersten Kontrolle hetzte die große Gruppe direkt weiter. Da unsere Trinkflaschen leer waren, ließen wir uns von dieser Hektik nicht verleiten und füllten diese erst wieder auf, bevor wir dann zu zweit durchs Susa Tal auf den ersten Anstieg zuradelten.
Ab dem Anstieg zum Mont Cenis fuhren Thomas und ich jeder sein eigenes Tempo und ich kletterte etwas zügiger als er vorneweg. Im Anstieg überholte ich dann fast alle der großen Gruppe wieder, die zuvor so hektisch weitergeradelt waren. Der Pass war von vielen Motorrädern frequentiert und zog sich über mehrere Stufen ziemlich in die Länge.
Nach einer kurzen Abfahrt ging es dann bereits zum höchsten Punkt unserer Strecke, dem Col d’ISERAN. Am Fuße des eigentlichen Anstiegs in Bonneval-sur-Arc bestellte ich mir eine Pizza, um für die nächsten Pässe gewappnet zu sein.
Der Col d’ISERAN war der mit Abstand atemberaubendste Pass der ganzen Strecke! Die karge Landschaft flashte mich dann dermaßen, dass mir mehrere Male Freudentränen in die Augen schossen und ich richtig ergriffen war.
In der Auffahrt zum nächsten Pass, dem Cormet de Roselend, war ich lange Zeit alleine unterwegs und freute mich an den im unteren Teil sehr schön bewaldeten Anstieg.
Vor dem letzten Pass des ersten Streckenteiles, dem Col des SAISIES, waren sowohl meine Trinkflaschen leer als auch meine sämtlichen Essensvorräte aufgebraucht. Einen Viehbrunnen für Wasser hab ich dann zwar noch gefunden, aber mit dem Essen sah es in dieser einsamen Gegend eher düster aus. Da es bis zur ersten Verpflegung eigentlich nicht mehr weit war, beschloss ich es einfach „leer“ zu versuchen. Der Pass war ein nicht allzu schöner „Skiort-Hügel“. Oben war ich dann auch wirklich „leer“ und energielos und begann wegen dem Energiemangel schon zu frieren. Selbst in der Abfahrt hatte ich dann Probleme und als in meinem MP3-Player dann plötzlich noch Heino zu singen anfing, hatte ich meinen ersten ernsthaften Tiefpunkt erreicht. Neben dem Beschluss meinen MP3 Player bei nächster Gelegenheit mal zu entrümpeln, fand ich auch ein Restaurant wo ich mir dann eine Cola bestellte. Unglaublich wie viel Energie in einer einzigen Cola steckt. Wie ausgetauscht stürmte ich dann auf die Verpflegungsstation in St. Gervais zu.
In der Gîte d’étape nahm ich meine Tasche in Empfang und es gab Nudelsalat. Nachdem ich frisch geduscht war und neue Klamotten anhatte kam Thomas zur Tür herein. Er wollte hier nach dem Essen eine Stunde schlafen. Da ich voller Tatendrang war und die Nacht angenehm warm war, wollte ich aber gleich weiterradeln. Wahrscheinlich war diese Entscheidung, wie sich bald rausstellen sollte, aber ein Fehler gewesen.
Vor dem längeren Flachstück zum Genfer See warteten in der Summe auch noch 1600 Höhenmeter verteilt über zwei kleinere Pässe auf mich. Schon kurz nachdem ich weitergeradelt war, macht sich eine starke Müdigkeit bei mir breit. Da auch die Konzentration nachließ, beschloss ich mich für eine halbe Stunde in ein Bahnhof-Wartehäuschen hinzulegen. Irgendwie wurde es mit der Müdigkeit aber nicht besser und auch eine weitere kurze Nap-Pause half nicht wirklich.
Bei KM 410 in Martigny begann es zu dämmern und ich rollte flach auf den Genfer See zu. Wenn ich unter Schlafmangel leide, hab ich das seltsame Gefühl als ob Körper und Geist bei mir keine Einheit mehr sind. Ich hatte das Gefühl mich selbst aus der Vogelperspektive zu beobachten und diesem stoisch vor sich hintretenden Körper Anweisungen zu geben.
In Montreux war ich wieder unter 500 Metern Seehöhe angelangt und die erste Alpenüberquerung war somit also geschafft. In Montreux wurden in den frühen Morgenstunden die Reste des Jazz-Festivals aufgeräumt.
Das vor mir liegende Stück hatte ich zuvor anhand der Karte als relativ flach eingeschätzt und hoffte hier flott voranzukommen. Wie sich herausstellte war dies wohl eine grobe Fehleinschätzung gewesen. Nach dem harten Anstieg aus Montreux raus ging es dann im ständigen über endlose Dreckshügel auf und ab. Eventuell kam mir das aber auch nur so vor, da ich immer noch im Müdigkeits-Delirium rumeierte, und ein einsetzendes Regengebiet meine Stimmung zusätzlich drückte.
An der Kontrolle in GRUYÈRES bei KM 497 machte ich erstmal im Cafe der Käserei eine längere Pause. Im Regen radelte ich dann weiter das lange Tal nach SAANEN hoch. Ein doofe Steigung, wo man nicht wirklich das Gefühl hat voran zu kommen. Die folgende Abfahrt war dann zwar auch sehr lang, konnte mich aber nicht mit dem zurückliegenden Streckenabschnitt versöhnen. Immerhin hatte aber der Regen aufgehört und ich legte Schicht für Schicht an Kleidung wieder ab.
Nach einem sehr leckeren Teller Nudeln und einer Cola am Thunersee vor Interlaken war dann meine Müdigkeit endlich überwunden und so langsam kehrte auch meine gute Laune zurück. Daran konnte auch der „gnadenlose“ Radweg entlang des Sees nichts ändern. Zum einen ging er sehr steil auf und ab und zum anderen ging er teilweise auch Offroad über Wanderwege mit Wurzeln. Aber hey, wenn ich einen schönen Trail vor mir sehe, muss ich diesen auch fahren und habe deshalb natürlich nicht geschoben 😀
Der lange Anstieg zum Sustenpass machte mir dann erstaunlicherweise sogar wieder richtig Spaß. Mit lockerem Tritt schaffte ich über 500 Höhenmeter pro Stunde bei einem lockeren 110er Puls. Trotzdem war ich dann sehr froh, als ich die Verpflegungs-Station im Alpin Center gegen 21:00 Uhr erreicht hatte.
Nachdem ich frisch geduscht war und mich gerade auf eine Matratze hingelegt hatte, kam Thomas zur Tür herein. Was eine Freude! Ich schloss mich ihm an und wir bestellten uns im Restaurant noch was Warmes zu Essen und zwei Bier für die gute Nachtruhe. Wir legten uns dann schlafen und wollten um 3:00 Uhr gemeinsam weiterradeln. Ich wurde bereits nach einer Stunde wieder wach und fühlte mich aber schon wieder ziemlich erholt. Um 2:30 weckte ich Thomas, um uns für die Weiterfahrt fertig zu machen.
Da das Alpin Center ca. 300 Höhenmeter unterhalb der Passhöhe liegt, konnten wir uns zum Glück vor der Abfahrt wieder etwas warm fahren. Ich hatte trotzdem so ziemlich alles angezogen, was der mobile Kleiderschrank so hergab. Der Sustenpass war in Wolken gehüllt, aus den es leicht nieselte. Die Abfahrt nach Wassenen war ein Erlebnis was sich definitiv ganz tief in mein Erinnerung festgebrannt hat. Mitten in der Nacht fliegen zwei wagemutige Radler mit ihren LED Lampen durch die Wolken von einem Alpenpass ins Tal. Das war kein Teil eines Sience-Fiction Filmes sondern „pure freaking Reality“ 😉
Vorbei ging es dann an der Einfahrt zum Gotthard-Autobahn-Tunnel hinauf nach Andermatt. Diese Auffahrt in Galerien war wahrscheinlich das steilste Stück der gesamten Strecke, ließ sich aber für mich mit 34-30 immer noch gut fahren. Von Andermatt ging es dann nochmal 600 Höhenmeter zum Oberalppass hinauf. Die Wolken wurden dichter und der Regen nahm zu. Bis wir oben waren, waren wir klatschnass und froren. Deshalb waren wir froh auf der Passhöhe ein Frühstück und was Warmes zu Trinken zu bekommen. Ich schlotterte vor mich hin und war ein verfrorenes Häufchen Elend. Wie schnell sich die Gefühlslage doch wieder ändern kann.
Mit dem Maximalaufgebot an Kleidungsschichten wagten wir uns dann in die Abfahrt, nachdem der Regen etwas nachgelassen hatte. Aber zum Glück war die Abfahrt weniger schlimm als befürchtet. Nun folgte noch der Lukmanier-Pass der sich recht gut fahren ließ und wo es auch keinen weiteren Regen mehr gab. Hier hatte Thomas etwas Probleme mit Müdigkeit, die sich mit einer Coffein Ampulle aber lösen ließen.
Die Abfahrt zum Lago Maggiore war endlos lang und machte mir viel Spaß. Es war einfach ein tolles Gefühl alle Berge hinter sich zu wissen 😉
Die Küstenstrasse von Locarno nach Verbania ist eng und sehr verkehrsreich. Ich kannte sie von zurückliegenden Familienurlauben und war darauf vorbereitet, aber Thomas war etwas schockiert. In Verbania gab es nochmal Pizza bzw. Nudeln für uns, um die letzten 80 Kilometer noch gut zu überstehen.
Mir ging es überraschend gut und ich kurbelte fröhlich vor mich hin. Aber Thomas ging es leider irgendwie immer schlechter. Er hatte zuvor schon über Magenprobleme geklagt, die sich Schritt für Schritt in einen richtigen Infekt verwandelten. Ihn fröstelte es und er konnte nur noch ein moderates Tempo fahren. Also reihte ich mich hinter ihm ein und versuchte ihn so gut es ging zu unterstützten bzw. zu motivieren. Da ich mich bei PBP 2011 selbst in der schmerzlichen Lage befunden hatte einen Freund an meiner Seite zu benötigen, war es für mich kein Thema Thomas mit allen Mitteln zurück nach Biella zu begleiten. Wer das einmal selbst erlebt hat, weiß genau wie wichtig dies in solchen Momenten ist.
Mit moderatem Tempo und einigen zusätzlichen Pausen eierten wir über das nicht allzu schöne Stück zurück nach Biella. Der kilometerlange Schlussanstieg mit 1% Steigung ging scheinbar nie zu Ende und wir zählten jeden einzelnen Kilometer ab.
In Biella war der „Zieleinlauf“ nach 62 Stunden und 55 Minuten völlig unspektakulär. Thomas hatte inzwischen auch noch Fieber bekommen und ich holte ihn dann auch umgehend mit dem Auto zurück in unser Hotel. Nach einer Nacht in der er dann wie ein Stein geschlafen hatte, ging es ihm am nächsten Tag zum Glück schon wieder halbwegs gut.
Fazit:
Die Alpen-Safari war ein monumentales Erlebnis, welches mir so viele unvergessliche Eindrücke beschert hat, dass ich noch lange davon zehren kann. Die Strecke ist so unglaublich vielseitig und man sieht neben faszinierenden Alpenpässen auch schöne Städte wie Montreux, Interlaken und Locarno. Mein landschaftliches Pässe Ranking sieht wie folgt aus: 1. ISERAN, 2. SUSTEN, 3. LUKMANIER
Das Zeitlimit von 80 Stunden ist für dieses Höhenprofil schon recht eng. Das erklärt wahrscheinlich auch, warum von über 60 angemeldeten Teilnehmern nur 17 die Strecke im Zeitlimit gefinisht haben. Die anderen sind dann wohl auf die gleichzeitig angebotene 600er Strecke ausgewichen.
Die Organisation war sehr aufwendig und perfekt durchgeführt! Die Aufteilung der Strecke in drei Abschnitten mit Verpflegungs- bzw. Schlafpunkten machte es einfacher, die Strecke für sich einzuteilen. Ein großes Lob an das sehr nette und freundliche Team von Vallevobike!
Distanz: 947 km
Höhenmeter: ~ 15.500 m
Brutto-Fahrzeit: 62:55
Netto-Fahrzeit: 47:20
Hallo Tilo,
ich gratuliere Dir und Thomas zu Eurer tollen Leistung. Mich beeindruckt das sehr, werde so etwas leider selbst nie fahren könnnen.
Lieben Gruß und weiterhin viel Spaß und Erfolg bei Deinen Radtouren
Kirsten